23.9.2022

Ein Händedruck zu viel

Schweiz und Welt
Der viel kritisierte Händedruck des russischen Aussenministers Lawrow mit Bundespräsident Cassis.

Bundesrat werden ist schwer. Bundesrat sein auch. Gemäss diesem Motto hat der amtierende Bundespräsident Ignazio Cassis schon den einen oder anderen Fettnapf erwischt. Am Donnerstag war es mal wieder soweit. Er traf anlässlich der jährlichen UNO-Generaldebatte den russischen Aussenminister Sergej Lawrow. Dabei liess er sich nicht nur dazu hinreissen, diesem die Hand zu reichen. Er lächelte dazu auch noch.

Der mediale Shitstorm liess nicht lange auf sich warten. «Cassis auf dem Bild mit Lawrow: Lächeln im falschen Moment» titelte etwa die Neue Zürcher Zeitung. Dies nur eine der Negativschlagzeilen. Cassis kriegte überall sein Fett ab. Dabei hat Lawrow als Aussenminister eines UNO-Mitglieds ohne formale Einschränkungen und Sanktionen teilgenommen. Inhaltlich also eigentlich ein Sturm im Wasserglas. Mit problematischer Symbolik halt.

Einer der peinlichsten Momente für die Schweizer Aussenpolitik: Bundesrat Merz liess sich vom lybischen Diktator Gaddafi zum Narren halten.

Das Beispiel zeigt, wie viel Symbolik in der Politik oft steckt. Ganz besonders in den internationalen Beziehungen. Noch heute vielen in Erinnerung ist, wie der damalige Bundesrat Hans-Rudolf Merz 2009 zum lybischen Diktator Hannibal Gaddafi. Wie ein Schuljunge liess sich Merz dort vorführen – und bekam die Schweizer Geiseln nicht frei.

Zugegeben: Vielleicht hat es auch etwas Sympathisches, dass unsere Schweizer Bundesräte nicht dermassen raffiniert sind wie die Spitzenpolitiker manch anderer Länder. Trotzdem gab es durchaus auch bei uns schon Gegenbeispiele. Alt-Bundesrat Adolf Ogi etwa war berühmt für seine Symbolpolitik.

Nur eine Anekdote von vielen: Als Verkehrsminister hat Adolf Ogi alle Verkehrsminister Europas nach Wassen eingeladen. Der Druck des Auslands auf die Schweiz, für mehr Lastwagenfreiheit in den Schweizer Alpen zu sorgen, war sehr gross.

Der frühere Bundesrat Adolf Ogi war einer der wenigen Schweizer Politiker, der die Symbolpolitik beherrschte. So zeigte er etwa anhand des engen Urner Reusstals (Bild) den EU-Aussenministern die Probleme unseres gebirgigen Landes auf.

Vor der Kirche in Wassen zeigte Ogi ihnen die Gegend: «Hier die Reuss, die Staatsstrasse, die Eisenbahn und die Autobahn» – und mit dem Blick ins Tal – «und in diesem Raum haben sie vor allem den Lärm», erklärte Ogi. Die meisten Verkehrsminister hätten die Botschaft verstanden, einige nicht. Einer habe es einfach überhaupt nicht begreifen wollen: Der Verkehrsminister von Belgien Jean-Luc Dehaene.

Für den Flug mit dem Helikopter zum Zvieri nach Kandersteg gab Adolf Ogi dem Piloten den Auftrag, einen Abstecher zur Eigernordwand zu unternehmen. Sie flogen ganz nahe am Felsen und als der Helikopter noch etwas wackelte sagte Ogi zu Jean-Luc Dehaene: «Jean-Luc, hier kann man wirklich keine Autobahn bauen.» Da sei dieser auf die Knie gesprungen und habe gefleht: «Ich sehe es, ich habe Angst, lass uns weiterfliegen.» Von da an sei Jean-Luc Dehaene einer der besten Vertreter der Schweizerischen Verkehrspolitik in der EU geworden, war Ogi der Meinung.

Doch auch Ogi wurde noch übertroffen von einer wahren Meisterin der politischen Symbolik: Der erst kürzlich verstorbenen britischen Königin Elisabeth II. Immer wieder hiess es, dass die Queen keine Macht gehabt habe. Ich halte das für einen ausgesprochenen Unsinn. Nur schon die Tatsache, dass sie die meisten Mächtigen der Welt gekannt hat, beweist das Gegenteil. Denn Wissen ist bekanntlich Macht.

Eines der letzten Bilder der britischen Queen: Sie zeigt sie bei der Ernennung der neuen Premierministerin Liz Truss im schottischen Balmoral.

Doch nicht nur das. Die verstorbene Queen war im Gegensatz zu unserem diplomatisch unbeholfenen Bundespräsident Cassis unglaublich raffiniert, was die Symbolpolitik betraf. Sogar mit ihrem Tod hat sie Weichen gestellt. Erst wenige Tage vor ihrem Tod reiste sie nach Schottland, um dort noch die neue britische Premierministerin zu ernennen und dann zwei Tage später zu sterben. Ihr Sohn Charles, der natürlich an ihr Totenbett kam, wurde dadurch in Schottland zum neuen König Charles III.

Die verstorbene Queen hat damit das zum Separatismus neigende Schottland für ewige Zeiten mit ihrem Ableben verknüpft. Und nicht nur das: Sowohl die amtierende Premieministerin wie auch der neue König wurden auf schottischem Boden in ihre Ämter eingesetzt. Und die wochenlange Staatstrauer für die Verstorbene begann in Schottland.

Ich weiss: Man wird den Beweis nie erbringen können, ob Elisabeth II. bewusst in Schottland verstorben ist. Zutrauen würde ich es ihr auf jeden Fall. Denn sie spürte ja sicher, dass ihre Kräfte schwanden. Jedermann hätte es verstanden, wenn sie in Schloss Windsor verblieben wäre, anstatt die jährliche Reise nach Schottland anzutreten. Aber die Queen liess sich nicht abhalten, reiste nach Schottland und hat dadurch ganz bestimmt dem schottischen Separatismus entgegengewirkt. Ob die Wirkung so gross war, dass die Schotten definitiv beim Vereinigten Königreich bleiben, das wissen wir noch nicht. Wenn es aber so sein sollte, dann hat die Queen in ihrem Tod einen entscheidenden Beitrag für den Machterhalt ihrer Dynastie und den Zusammenhalt des Landes geleistet.

Zugegeben: Nur wenige Menschen können selbst bei ihrem Ableben eine solche Wirkung erzielen. Aber trotzdem kann man von der Queen viel lernen. Manchmal muss man nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Und ohne grosse Worte kann man eine enorme Wirkung erzielen.

Autor: Samuel Krähenbühl